Es weht ein leiser Wind von West nach Ost

Abgelaufen

Rückkehrerin | Sie war eine von Hunderttausenen gut ausgebildeten Frauen, die nach 1990 in den Westen gingen. Nun kehrt die Sozialarbeiterin Andrea Guth zurück. Ihre Tochter auch.

Der Osten ist weiblich! Im Wendejahr 1989 stimmte das. Nicht zu 100 Prozent, aber zu weit über 90. Fast alle Frauen in der DDR arbeiteten damals.
Als Verkäuferinnen, in Krankenhäusern und Schulen, als Ingenieurinnen, auf dem Bau und in Kraftwerken. Die meisten Frauen, gerade in den sogenannten typischen Männerberufen, legten dabei noch nicht einmal großen Wert auf ihre weibliche Berufsbezeichnung. Sie machten einfach ihren Job, nicht selten Karriere; Kinder und Hausarbeit dazu. An den Universitäten, in den Hörsälen herrschte ein ziemlicher Gleichklang: Ende der 1980er Jahre waren 50 Prozent der Studierenden weiblich. Dass Frauen einem Land derart ihren Stempel aufdrückten, das war einmalig. In Europa, aber auch weltweit.

Genauso einmalig war dann allerdings auch der Absturz. Der begann mit der deutschen Einheit. Die Ex-DDR-Leute verließen in Scharen den Osten. Erwerbslosigkeit oder miese Verdienstmöglichkeiten vor Ort trieben sie in den alten Westen: Die Statistik spricht von fast 1,4 Millionen Menschen, die in den ersten Einheitsjahren abwanderten. Und wer ging, das waren vor allem die Frauen. Die jungen und die gut ausgebildeten. Andrea Guth gehörte zu ihnen. Das Weggehen war bei ihr ursprünglich gar nicht vorgesehen. Das passierte im Laufe ihrer Ausbildung. Über das Zurückkommen allerdings entschied die heutige Rentnerin sehr bewusst.

 

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Wir treffen uns in ihrem Lieblingscafé in Teltow, in der Stadt, in der Andrea Guth einst geboren wurde und aufgewachsen ist. Die liegt in Brandenburg, unweit von Potsdam, am südwestlichen Stadtrand von Berlin. Persönlich begegnen wir beide uns hier zum ersten Mal, vorher gab es nur Telefonate. Am Eingang steht eine Frau mit freundlichen blauen Augen, einem offenen, neugierigen Blick. Zunächst erzählt sie behutsam von ihrem Lebenswechsel Ost–West–Ost. Denn – so sagt sie – so richtig wissen wollte das bislang niemand.

Andrea Guth war die Älteste von sieben Geschwistern. Mit 16 Jahren und der Mittleren Reife in der Tasche verließ sie das Elternhaus. Vater und Mutter hatten entschieden, sie solle Erzieherin lernen, in einer katholischen Einrichtung. Das könne sie doch bestimmt, sie habe ja so viele Geschwister und sei den Umgang mit Kleineren gewohnt. Selbst geprägt durch eine strenge katholische Erziehung, aber auch weil sie keine Idee für ihre berufliche Zukunft hatte, gehorchte sie – wie sie sagt – als „brave Tochter“.

Das erste Jahr fand auf der sonnigen Insel Usedom statt, in einem Kinderkurheim. Insgesamt dauerte die Ausbildung an verschiedenen Orten vier Jahre, und am Ende hatte Andrea Guth mit Anfang 20 einen Abschluss als „Erzieherin im katholischen Dienst“. Staatlich anerkannt wurde diese Qualifikation von den offiziellen DDR-Stellen allerdings nicht. Der jungen Frau war das egal, sie mochte ihren Job, liebte die Kinder, wurde nach ersten Berufsjahren und -erfahrungen sogar Chefin eines katholischen Kindergartens in Potsdam-Babelsberg. Den leitete sie bis in den Sommer 1989 hinein. Dann kam der Herbst, und nichts war mehr wie vorher gedacht – oder wie geplant.

Dieses ganze Westrecht

Nur zwei Monate vor dem Mauerfall, im September 1989, hatte Andrea Guth – jetzt schon 30-jährig – eine Fortbildung angefangen. Die sollte zwei Jahre laufen und sie befähigen, auch mit Jugendlichen zu arbeiten. Also paukte sie DDR-Rechtskunde, Religionspädagogik, Methodik und vieles andere mehr im Katharinenstift in Berlin. Doch schon wenige Wochen später war klar: Das Land wird verschwinden, und damit auch alle bisherigen Gewissheiten und Verabredungen. Aus der Schule im Stift wurde eine Sozialpädagogische Fachhochschule, die zuvor gepaukte Rechtskunde wurde unnützes Wissen, und aus der zweijährigen Fortbildung wurde ein vierjähriges Studium. Viele Dozenten kamen nun aus dem Westen, vorrangig aus Freiburg und München. Da war anfänglich viel Fremdheit, gegenseitiges Nichtwissen und Nichtverstehen. Auch an Arroganz erinnert sich Andrea Guth. Manchmal wollte sie alles hinschmeißen. „Dieses ganze Westrecht, die Verwaltungskunde haben mir fast das Genick gebrochen.“
Sie hat nicht hingeschmissen. Andrea Guth gehörte zum ersten Jahrgang an dieser neu gegründeten Fachhochschule, der mit einem Diplom für Sozialpädagogik/ Soziale Arbeit abschloss. Da war sie 34 Jahre alt, wieder einmal die Älteste.
Was kaum noch in der öffentlichen Erinnerung ist: Das frisch gegründete Land Brandenburg – und Andrea Guths Heimatstadt Teltow zählte dazu – zahlte in den Einheitsanfangsjahren jungen Leuten eine Art Wegzugprämie. Mangels eigener Ausbildungschancen sollten Schulabgängerinnen und Schulabgänger wenigstens schon mal anderswo eine berufliche Ausbildung beginnen, um nicht gleich beim Arbeitsamt zu landen und „nicht vermittelbar“ zu sein. Die Landesregierung unterstützte das Weggehen mit einem finanziellen Obolus. Das Geld war gedacht zum Ersteinrichten einer eventuellen kleinen Wohnung oder eines WG-Zimmers. Der Start, das Ankommen in der Fremde, sollte so wenigstens materiell ein wenig erleichtert werden. Damit verbunden war jedoch die Hoffnung: Die kommen schon zurück. Irgendwann danach. In den neuen Bundesländern werden sich in der Zwischenzeit, wenn auch nicht unbedingt „blühende Landschaften“, so doch neue Unternehmensstrukturen und Arbeitsperspektiven etabliert haben.

Ein Irrglaube, wie man rückblickend weiß. Allein im Jahr 1992 wanderten fast 30.000 Frauen von Ost nach West, erfasst durch das Statistische Bundesamt 2005. Diese Wanderungswelle ebbte auch nicht wirklich ab. Noch einmal ab Ende der 1990er Jahre zogen vermehrt junge Menschen, insbesondere Frauen, mit höheren Bildungsabschlüssen aus Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen weg. Unter allen Menschen, die seit 1991 abgewandert sind, waren fast zwei Drittel weiblich.Die Gründe dafür lagen immer noch bei den schlechten Berufs- und Verdienstmöglichkeiten. Diese Frauen – weggegangen im Alter von 18 bis 30 Jahren – fehlen bis heute. Darum stimmt das einstige Bild vom „weiblichen Osten“ in vielen Regionen Ostdeutschlands nicht mehr. Unter den jungen Erwachsenen offenbart sich ein Frauendefizit, das in dem Maß in Europa einzigartig war.

Andrea Guth profitierte übrigens nicht von den finanziellen Anreizen zum Weggehen. Der Grund: Es war ja bereits ihre zweite berufliche Ausbildung. Das letzte Studienjahr war ein praktisches, und da es 1992 im Osten (abgesehen von Westberlin) noch keine sozialpädagogischen Einrichtungen gab, landete die angehende Sozialarbeiterin tief im Westen. In Rheinland-Pfalz, Ludwigshafen, im Gesundheitsamt. Ein tolles, ein lehrreiches Jahr, sagt Andrea Guth. Sie lernte alle Abteilungen kennen: Drogen und Sucht, Leben mit Behinderung, Familienpflege, die Aids-Abteilung. Sie konnte überall viele Wochen „reinschnuppern“. Doch wie funktionierte der Alltag mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem Westen? Andrea Guth schmunzelt und sagt: „Sie waren wohl ein wenig gespannt, wie eine aus dem Osten sich macht.“ Aber sie selbst sei ohnehin sehr neugierig gewesen, dazu bescheiden, und sie könne gut zuhören. Sie wollte einfach alles wissen und verstehen. Über die Arbeit entstanden so auch Freundschaften.

Matschepampenheulglück

Ludwigshafen wäre ein guter Lebensort gewesen. Auch weil der langjährige Freund, ebenfalls aus dem Osten, dort arbeitete – sein Arbeitgeber in der alten Heimat war pleitegegangen. Die beiden heirateten, reisten nach Griechenland, doch zurück von der Hochzeitsreise, bekamen sie die Ansage: Der Ehemann muss nach Sindelfingen, Mercedes-Standort in Baden-Württemberg.
Andrea Guth zog ihrem Mann hinterher und baute sich in Sindelfingen ein neues berufliches Umfeld auf: Koordinatorin für Nachbarschaftshilfe und Familienpflege, später Integrationskindergärtnerin. Zwischendurch selbst zwei Kinder geboren, eine Tochter, einen Sohn. Gewöhnungsbedürftig für sie als Ostfrau war, dass in Baden-Württemberg die Kinder erst mit drei Jahren in die Kita kamen. Mit Erstaunen quittierte sie auch, dass sich später – als sich per Gesetz das Blatt für eine öffentliche und frühzeitige Kinderbetreuung wendete – viele junge Mütter dafür entschuldigten, dass sie ihre Kinder schon nach der Elternzeit in die Kita gaben. Es habe immer dieser leise Vorwurf von „Rabenmutter“ in der Luft gelegen.
Und noch etwas bemerkte Andrea Guth. Über ihre eigenen Kinder, bei Elternbegegnungen in der Kita oder in der Schule, lernten sie andere „Ostler“ kennen. Aus Zittau, aus Altenburg, aber auch aus Kroatien und Ungarn. Da sei sehr schnell „ein Draht“ gewesen. Sie sprachen über ähnliche Themen und Erfahrungen. Über das Weggehen und Ankommen, über „Bleiben oder doch wieder zurück nach Hause?“.

 

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Andrea Guth ist zurück. Seit zwei Monaten. Denn bei allem „Glück“, das sie in ihrem Ost-West-Leben hatte, war eins immer da: die Sehnsucht nach Teltow, nach ihrer großen Familie. Der Abschied von Baden-Württemberg fiel ihr nicht so schwer, der von den Nachbarn und Freunden aber schon. Sie selbst bekam dann „das große Heulen“ bei ihrer Ankunft in Teltow: Ein ganzer Haufen Nichten und Neffen, Schwager und Schwägerinnen und natürlich auch die Geschwister standen vor ihrem neuen Zuhause. Es regnete, es war „Matschepampe“, egal – alle packten an, schleppten Kisten, Kartons und Möbel.
Jetzt lebt Andrea Guth wieder an dem Ort, von dem aus sie vor 30 Jahren aufgebrochen war, um sich neu zu erfinden. Die Stadt ist nicht mehr die alte, sie hat sich verändert, gehört zu den beliebten Zuzugsorten im Speckgürtel von Berlin. Trotzdem: Sie ist immer noch und wieder Heimat, sagt Andrea Guth. Es sind die Menschen, das Gefühl, dazuzugehören.
Ihre Tochter hat sie übrigens mitgebracht. Die wollte – obwohl im Westen geboren – mit in den Osten. Die Ergotherapeutin ist jetzt in Elternzeit und wird dann beruflich wieder einsteigen. Ihr Mann, ursprünglich aus Bremen und kompetent in Wirtschaft und Maschinenbau, ist schon in Lohn und Brot. Der Wind hat sich gedreht. Wenn auch nur leicht, von West nach Ost.

 

 Der Artikel erschien am 28. September 2023 im der Freitag | Nr. 39

Der Osten ist weiblich. Immer mehr Frauen wollen in Ostdeutschland leben. Was finden sie dort?

 

Giesela Zimmer...

...moderierte lange Jahre das noch im DDR-Fernsehen gegründete, dann vom ORB übernommene Frauenjournal ungeschminkt. Heute arbeitet sie als freie Autorin.

 

Die Fotos...

... stammen aus den Fotoalben der Familie Pech und wurden für diesen Artikel zur Verfügung gestellt.

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